5. November 1697

Hans Veit Rentsch - Held vom Scharzfels

- Ein Dachdecker aus Herzberg -

Zusammengestellt von
Firouz Vladi, Osterode am Harz
November 2011


Hans Veit Rentsch - Held vom Scharzfels

- Ein Dachdecker aus Herzberg -

5. November 1697

Fünf Uhr morgens, eine ungewöhnlich dunkle und windige Spätherbstnacht; die Dämmerung zieht noch nicht herauf. Still stehen die fünf Pferde mit ihren vier Reitern unterm Felsen der uralten Bergfeste Scharzfels. Zwei Personen nähern sich: von oben. Im festen Griff umklammert Hans Veit Rentsch eine Dame1, setzt sie – samt ihrer kupfernen Bettpfanne – auf das fünfte Pferd und …
Ja, was tat dieser verwegene Mann jetzt? Die anderen waren abgeritten. Er zog sein neues, am Sonntag zuvor auf dem Markt in Gieboldehausen gekauftes Hanfseil herab, rollte die dreißig Meter auf und entwich; wie ist nicht überliefert.

Hans Veit Rentsch war des sichern Todes ob dieser Tat, denn in dieser Angelegenheit kannte die Landesherrschaft keine Gerechtigkeit. Frau und sechs Kinder blieben in dieser Nacht in Herzberg ohne Ernährer, ohne Vater. Seine Spur verlor sich.
Was war eigentlich vorgefallen? In Zeiten der Feudalherrschaft war die Familienehre des Fürsten Staatsraison. Öffentliches Wohl, Frieden, Rechtsordnung waren diesem nachgeordnet. So auch im Fürstentum Hannover des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Am hannöverschen Hof des späteren Kurfürsten Georg Ludwig wie in allen Herrscherhäusern durften Prinzen und Prinzessinnen nicht heiraten, sie wurden nach taktischen Aspekten zwangsverheiratet. Persönliches Glück oder gar die Liebe blieben auf der Strecke.
So auch in der Ehe des Kurfürsten mit Sophie Dorothea, der schönen blutjungen Braunschweig-Lüneburgischen Prinzessin. Er mochte sie nicht, den „Mausdreck im Pfeffer“, zeugte wegen der offiziellen Thronfolge mit ihr zwei Kinder, hielt sich ansonsten, auch das in den Herrscherhäusern üblich, eine Maitresse. Und Sophie Dorothea?
Ein Offizier in schwedischen Diensten, später sächsischer Generalmajor im Dienst August des Starken, Hofcavalier, hübscher umtriebiger Jüngling um die Mitte Zwanzig, Philipp Christoph Graf von Königsmarck, war ab 1688 häufig im Leineschloss in Hannover zu Gast. Beider Wege kreuzten sich…
Am 11. Juli 1694 fand der Skandal, Niedersachsens berühmtester, sein grausames Ende. Der junge Graf wurde im Leineschloss ermordet, seine Leiche verschwand. Prinzessin Sophie Dorothea wurde nach unverzüglichem Scheidungsprozess wegen „böswilligen Verlassens“ auf Geheiß ihres Ehemannes, Kurfürst Georg Ludwig, für den Rest ihres unglücklichen Lebens in das Wasserschloss Ahlden an der Aller verbannt, es wurde ihr bis zum Tod 1726 ein feudales Gefängnis. Der Kurfürst stieg - Personalunion - zum König von England auf; ihr blieb die Chance einer britischen Königin versagt.
Was hat das alles mit dem Scharzfels zu tun? Sophie Dorothea hatte eine Zofe, das Kammerfräulein Eleonore von dem Knesebeck. Sie entstammt einer altangesehenen Familie Lüneburger Uradels mit Stammsitz Knesebeck, Kr. Gifhorn. Auf dem Knesebeckschen Gut Nordsteimke, Kr. Helmstedt ist Eleonore zu Hause. Wie viele aus ihrer Familie wirkte sie im Dienste höherer Fürstenhäuser und hatte eine entsprechende Ausbildung genossen.

Etwa zehn Jahre älter als ihre Herrin spielte Eleonore eine zentrale Rolle in der heimlichen Liebschaft zwischen Graf von Königsmarck und Prinzessin Sophie Dorothea. Hunderte herzzerreißender Liebesbriefe gingen durch ihre Hände und für privateste Begegnungen sorgte sie unauffällig. Sie machte sich, in treuen Diensten der Prinzessin, schuldig und wurde zur gefährlichen Mitwisserin aller Details des Skandals, des Mordes und der Machenschaften am Hofe des so gehörnten späteren Kurfürsten zu Hannover und englischen König. Was passierte füllt bis heute viele Regalmeter Akten, nicht nur im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv, und Literatur in den Bibliotheken! Hier wäre ein Bildnis der Eleonore einzurücken, allein, trotz intensiver Suche ist bislang keines aufgetaucht: nie gemalt oder später vernichtet? Der Sack im Bilde oben links ist so vielleicht die einzige „Darstellung“ Eleonorens und ihres Befreiers.
So kam die Unglückliche, nachdem sich das zuvor für die Haft genutzte Amtshaus in Springe am Deister als zu „durchlässig“ erwies, in Festungs- und Isolationshaft, auf das hannöversche Staatsgefängnis Scharzfels. Kontaktsperre! Galt die Burg als uneinnehmbar, so musste sie ja auch (fast) jedem Ausbruch widerstehen! Am 3. Februar 1695 sollten sich die starken Burgtore der alten Bergfeste hinter Eleonore für „immer“ schließen.

Man nutzte die ehemals herrschaftlichen Räume ebenso wie die sonstigen Kammern der alten mächtigen Stammburg der Grafen von Scharzfeld als Gefängnis. Erst ab 1734 sollte die Festung besonders zu diesem Zwecke umgebaut und saniert werden. Es kam nicht mehr dazu; am 30. September 1761 wurde der Scharzfels von französischen Eroberern gesprengt. Noch im 16. Jh. diente sie den Grafen von Hohnstein als Residenz. Man hatte im 17. Jh. die Festung ausgebaut und mit einigen Geschützen gesichert. Ein kleines Invalidenkommando von 16 Mann diente unter Kapitänleutnant Jakob Klenert der Bewachung; seine Frau versorgte für zwei Taler die Woche die Gefangene mit Essen. Eleonores „Zelle“ lag auf der Oberburg, die ehemalige Fürstenstube im vierten Geschoss des Landdrostenhauses; vom Dache durch einen mit Brettern bedeckten lehmernen Wellerboden getrennt. Die Fenster waren vergittert und mit Brettern verblendet. Bald drei Jahre blieb der Dame aus dem alten und noch heute bestehenden Adelsgeschlecht derer von dem Knesebeck nur der Blick in den Himmel.
Es dauerte nicht lange, da trieben sich fremde Personen um Barbis und Scharzfeld herum, suchten Kontakt zum Pastor oder zu Wachsoldaten, versuchten Briefe der Gefangenen zukommen zu lassen. Umgekehrt suchte, wohl nicht ganz ohne Erfolg, Eleonore Kontakt zu ihrer Familie. Schreibzeug war ihr verwehrt. Man ließ ihr Nähzeug und sie fertigte den Kindern der Wachleute Täschchen in ihre Kleidung (wofür wohl?). Sie schlief lange, nahm das Frühstück, das ihr der Junge des Klenert morgens hochbrachte, erst so nach 10 Uhr ein und gewöhnte das Wachpersonal daran, sie so lange in Ruhe zu lassen. Nachdem in Hannover weder die angestrengten Gerichtsverfahren aufgenommen noch 100.000 Thaler Kaution angenommen wurden, war es für ihre adlige Familie nun auch eine Frage der Ehre, ihrem von den hannöverschen Welfen geschundenen Mitglied zur tatsächlichen Freiheit zu verhelfen. Hier darf der Gerechtigkeit halber nicht unerwähnt bleiben, dass Eleonore – entgegen dem sonst in Hannover gepflegten Rechtsstaat – ohne Anklage, Prozess und Urteil inhaftiert und ihrer Freiheit beraubt war! Ihr waren damit auch die Mittel der Verteidigung genommen, ja man teilte ihr nicht einmal den Grund ihrer Haft mit. Dieser Mangel wurde dann der - wenn auch erfolglose - Hauptbeschwerdegegenstand zwischen ihrer Verwandtschaft und dem Hof in Hannover.
Am 5. November 1697 war es dann soweit: im völligen Dunkel, bald nach Mitternacht, erstieg Rentsch die für unersteigbar gehaltene nördliche Felswand, überstieg die Mauer und schlich sich auf dem Dachboden über das Gemach der Knesebeck.

Alsbald bohrte sich Werkzeug von oben durch den Bretterboden und schuf ein Loch von 2 x 3 Spannen (40 x 60 cm). Eine starke Hand ergriff Habe und Dame und zog sie hoch. Wie viel mag die jetzt etwa 42-Jährige nach drei Jahren Stillsitzens gewogen haben? Zurück blieb ein Bettgestell aus Messing mit Bettzeug. Dass sie dies fünf Jahre später von Hannover schriftlich zurückfordert, wirft ein Bild auf die Beharrlichkeit der Knesebeck. Vom Boden des Landdrostenhauses ging es über eine lange Diele im Dach des Zeughauses, dann an der Fassade herab bis auf den Felsen und von dort auf insgesamt gut 20 m am Fels herab auf den sicheren Erdboden. Hier wartete niemand anders als Eleonores Schwager Hans Friedrich von Metzsch, als königlich polnischer Kammerjunker verkleidet, nebst weiteren als „Polacken“ kostümierte Personen. Bei aufgehendem Mond ritten sie, und das wird der Befreiten nach drei Jahren Stillsitzens sauer angekommen sein, in weitem Bogen Osterode umgehend ins sichere Wolfenbüttelsche, wo sie bei Herrhausen eine Kutsche erwartete.
Maria Aurora, die Schwester des ermordeten Graf von Königsmarck, half auch: in ihrer Buchführung erschienen, wie man später feststellte, 11 Thaler für den „Schieferdecker Hans Rentz“. Sie wurde die Maitresse August des Starken, als sie sich für ihren Bruder so vehement einsetzte.
Der Held dieser wahrhaft tollen Geschichte ist ein Dachdecker! Er arbeitete für die Behörden der ehemals hannöverschen Ämter Herzberg und Scharzfeld, stand also in Bestallung des Kurfürsten, war ordentlich verheiratetet und galt mithin als zuverlässig. Rentsch war Schiefer-, Ziegel- und Dachdecker und wohl auch Büchsenmacher, Uhrmacher, Maler, Töpfer und Ofensetzer. Die Dachlandschaft des alten Bergschlosses Scharzfels, wo er derzeit mit Arbeiten beauftragt war, war ihm bestens vertraut! So konnte er schon Wochen zuvor Kontakt mit der Gefangenen aufnehmen; ja, er soll sogar Briefe von ihr bis nach Leipzig gebracht haben; dort hielt sich der Organisator der Befreiung, Eleonores Schwager Metzsch auf.
Rentsch lebte, wie die Akten später hergeben, jedoch "nicht wol" mit seiner Frau, die vor ihrer Heirat schon von einem anderen „Kerl“ eine Tochter bekommen hatte. Urkundlich war er in Herzberg nicht gemeldet. Es heißt, er hätte stets einen kleinen Puffer (Pistole) im Gürtel und gab zu Feierabend vor dem Heimweg einen Schuss in die Luft. Man sah ihn oft in schwindelnder Höhe eines Daches seine Tobackspfeife schwenkend Possen treiben. Die Herzhaftigkeit, die sein Beruf erforderte, war bei Rentsch zur Verwegenheit, ja zum Leichtsinn gesteigert. Diesen Mann hatten die Knesebecks gewonnen.
Wie die nachfolgenden Recherchen ergaben, soll er schon Anfang Oktober im Herzberger Wirtshaus verkündet haben, dass der Vogel vom Scharzfels noch diesen Monat ausflöge. Am Sonntag, 3. November 1697, erwarb er auf dem Markt in Gieboldehausen eine große Menge Hanfseile; am Montag arbeitete er nicht. In der folgenden Nacht brachte er etwas zuwege, „dazu ihm der Teufel geholfen haben muß“, wie der Kommandant später urteilte.2 „Durch den Teufel oder seine Helfershelfer entführt“, so Kapitänleutnant Klenert, „der allerklügste Mensch hätte das nicht aussinnen können, dass von hintenzu an einem Felsen ein Mensch bei Tage oder Nacht auf das Haus können kommen.“
Amtmann und Kommandant erwartete nun die Dienstpflicht, die Flucht nach Hannover zu melden, wozu die Beamten freilich erst am nächsten Tag den Mut aufbrachten. Wenn man die Gefangene erst nach 10 Uhr weckte, dann hatte sie jetzt bei der Entdeckung ihrer Flucht einen reichlichen Vorsprung! Alles wurde durch den Amtmann des Amtes Scharzfels polizeilich akribisch aufgenommen, die Abseillänge, Fuß- und Pferdespuren unterm Burgfelsen, das Loch im Dach und die Spuren auf den wohl eher staubigen Dachböden. Später rechtfertigt sich Klenert mit dem Vortrag, dem Amtmann würde die Schuld treffen, „denn der Dachdecker, dieser Windschläger, sei immer dessen Liebling gewesen und habe die größten Freiheiten genossen“. Eine Überraschung war: Eleonore, der man Schreibzeug verwehrte, hatte es verstanden, die weiß gekalkten Wände ihrer Zelle von der Decke bis zur Fußleiste nebst Türen mit Kohle aus dem schwachen rußenden Kaminofen zu beschriften: Gedichte, Gebete (s.o.). Man hatte also ihre Zelle seit langem nicht mehr betreten oder gar kontrolliert! Amtmann Konrad Paul Volckmar bekam nun den Auftrag, alles peinlich genau abzuschreiben, wozu er sich auch mit Kerzenlicht auf den Boden legen musste. Die dreißig großen Seiten liegen noch heute im Hauptstaatsarchiv in Hannover.
Im Lande des Herzogs Anton Ulrich, mit Hannover wegen der Erbfolge noch tödlich verfeindet, fand Eleonore Zuflucht. Bald reiste sie weiter nach Wien, um vom Kaiser einen Schutzbrief zu erlangen. Sie hatte darin Erfolg, aber alle ihre Wege waren von hannöverschen Spionen verfolgt; der Plan, sie zu überfallen und zurückzuführen misslang gleichwohl.
Was aber wurde aus unserem umtriebigen Dachdecker Hans Veit Rentsch aus Herzberg, der der Kammerzofe Eleonore von dem Knesebeck, der Vertrauten ihrer Prinzessin Sophie Dorotheas und Mitwisserin des Skandals zur Flucht aus dem Staatsgefängnis verhalf? Irgendwo muss doch auch er "Spuren" hinterlassen haben? Hier brechen unsere Akten ab, fast. Hannover ließ nicht locker und beauftragte den Legationssekretär Johann Ferdinand Kotzebue, den Fluchtweg der Entwichenen zu erkunden und zugleich auf den Knesebeckschen und Veltheimschen Gütern bei Hildesheim und Halberstadt nach dem Verbleib des ebenfalls entwichenen Dachdeckers zu fahnden. Nichts bekam man heraus. Erst viel später wurde aufgedeckt, dass Rentsch nebst einem mit ihm geflohenen Gesellen in Aderstedt bei Halberstadt Unterschlupf gefunden hat, einem Rittergut des Grafen Arndt Heinrich von Veltheim, Eleonores Schwager (im Großen Bruch zwischen Oschersleben und Hornburg). Von diesem Gut stammte ihre Mutter Ursula von Veltheim, die hier 1712 noch lebte. Hier nahm 1703 auch Eleonore ihren Wohnsitz, nachdem die 1702 mit Hannover ausgesöhnten wolfenbüttelschen Lande ihr wohl nicht mehr sicher genug erscheinen. Rentsch hat sich dort aber so heimlich halten müssen, wird berichtet, dass er sich nicht einmal auf ein Bier in den Dorfkrug traute. Schön zu sehen, dass die Familie von dem Knesebeck für den Befreier sorgte, mehr noch, ihn schützte. Denn in Hannoverschen Landen galten in der Königsmarck-Affäre kein Recht und keine Gnade; Rentsch hätte dem Tode auf dem Schafott ins Auge sehen dürfen.
Und in Herzberg: dort war nun die Familie Rentsch ohne Vater, Ehemann und Ernährer zurückgeblieben. Ob der Dachdecker sie alle nachholen wollte, die Umstände es aber verhinderten? Sie litten Not und Elend, die Frau musste betteln gehen; die in „Unehren“ gezeugte älteste Tochter holte sich ihr Almosen täglich auf dem Amte ab, so bezeugen die Akten.

Hier endet die Geschichte des „Helden vom Scharzfels“. Was aus ihm wurde, wissen wir nicht, auch nicht, wie es mit seinen Nachfahren in Herzberg weiterging. Stadt- und Staatsarchive, Kirchenbücher sowie „Kommissar Zufall“ könnten hier weiterhelfen. Wer mag sich dieser Aufgabe unterziehen?

Zusammengestellt von Firouz Vladi, Osterode am Harz, November 2011

1 Vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben, dass ein Mann sie fest umklammert?
2 zitiert und im Übrigen hier frei wiedergegeben nach Georg SCHNATH (1955): Eleonore von dem Knesebeck, die Gefangene von Scharzfels.- N. Jb. Landesgesch., Bd. 27.

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