FIROUZ VLADI, OSTERODE AM HARZ

Erinnerungen an Rehhagen
und an Forstamtmann Rudolf Daur

Es pochte stürmisch an der Hüttentür, vielleicht morgens um fünf. Ich kroch mürrisch aus dem Schlafsack, im Traum noch den verschiedenen Erscheinungsformen von Daunen verhaftet, robbte zur Tür des Giebels und schaute runter. Es war öfters so. Mein „Gun Moorgn“ oder „wä iß doa“ wurde ich nicht recht los, vielmehr stürmte ein energisches „Jungs, habt ihr meine Rinder gesehen?“ herauf. Selbstverständlich hatten wir geschlafen und nichts Besonderes gemerkt.Wir schliefen immer gut in der Dachkammer der Kamphütte im Rehhagen.


Die Kamphütte im Rehhagen


Die Steinstraßenhütte

Der Tag voller Höhlen- und Geländearbeit, der Wusch im kalten Wasser der Kleinen Steinau, Spaghetti mit Soße, meist als Miracouliques á la Kempe, machten müde. Stephan schlief meist unten auf dem Tisch. Dessen zerschnittene Oberfläche roch noch nach den Wurststullen der Waldarbeiter vom Vortage. Oben rochen die Matratzen nach Wandsbeker Sperrmüll. Später stiegen einige auf Hängematten um, was in der Eingewöhnungsphase auch nicht problemfrei ablief. Doch, einmal war mir nachts eine Kuh begegnet. Ich hangelte am Fassadenpfosten in schlafvertrauter Weise herunter, den Tee wegzubringen. Mitten bei diesem Vorgang spürte ich - es war völlig dunkel - ihren warmen fauchenden Hauch. Einen anderen Tag trauten wir uns nicht recht, uns in der Steinau zu waschen. Mehrere Gehörnte standen mitten in unserer Waschstelle.
In den späteren Jahren hatte Rudi Daur nicht mehr den Elan, das Gatter zu flicken. Die Rinder, von der Rasse her schon mehr der Waldweide zusprechend, zogen früh morgens durch vertraute Lücken im Gatter hinauf ins Rehhagen, dem schönsten Revier des südwestlichen Harzrandes. Oben an der Schweimke oder noch höher an der Steinstraße oder der Katzenklippe war das Grünzeug wohl leckerer als unten, wo die große Rinderkoppel an das Forstgehöft grenzte. Nachdem wir - wie gesagt - Herrn Daur nicht helfen konnten, stieg er auf den grünen Forstdiensttrecker und tuckerte die Ackerstraße hinauf. Gegen elf, wir waren schon längst untertage, hatte er die Kühe wieder in der Koppel. Viel später erst erfuhr ich um die Bedeutung der Rinder. Es war die letzte - wenn auch nicht mehr reinrassige - Herde der Rotbunten, der hochlagenfesten Oberharzer Rasse, die über Jahrhunderte das kärgliche Bergmannsdasein der Oberharzer Bevölkerung lindern half. Dass sie heute, sogar in der gentechnischen Linie, einen Muhruf weiter auf Düna wieder auferstanden ist, ist ein kleines Wunder.
Die Kamphütte im Rehhagen und danach die Steinstraßenhütte, die Bärengartenhütte und die Steinbruchshütte, wohl auch Fuchsbau genannt, lernten wir ab 1969 nach und nach kennen - und lieben. Sie waren seit 1955 wohl bereits ein Domnizil von Christian und Clausthaler Pfadfindern; später auch Bremer Pfadfindern. Ich lernte ihn als Ing. grad, Christian F. und Gef. aus Hamburg kennen; das war 1970. Schon die erste Höhlentour, Ostern 1970, führte in die Kamphütte. Bis zur Daurs Pensionierung 1974 hatte ich oft in den Hütten genächtigt oder gewohnt. Für uns und für viele - im Revier gern gesehene Pfadfinder - war der Wald im Rehhagen herrlich. Der Kampf mit der Schilfmattenabsperrung am FKK-Gelände war ein kleiner Teil der Würze. 1972 wurde an vielen Orten aufgeräumt. Sitzecken, Ruhebänke, Abfalleimer wuchsen aus dem Boden, die Waldorte wurden mit geschnitzten Tafeln benannt, das Revier war vorbereitet für die Übergabe an den Nachfolger. Dann kam die Nacht vom 12. auf den 13. November 1972. Innerhalb weniger Stunden war die Frucht jahre- und jahrzehntelanger Arbeit vom Orkan geworfen.
Zuletzt war ich im Frühsommer 1973 in der Kamphütte. Ich saß auf der Ruhebank zwischen den beiden Birken inmitten des Pflanzgartens, nach dem die Hütte benannt war. In der warmen Nachmittagssonne ließen sich die Kartierergebnisse des Tages in rechtem Licht noch einmal beleuchten. Murmelnd ging Rudi Daur in der Nähe auf und ab. Bald kam er heran, deutlich waren Zahlen und Zahlengruppen, mit fluchendem Tone gesprochen, zu hören. Die Forstverwaltung hatte auf EDV umgestellt. Hieß es früher: „2 Kulturfrauen, 400 Buchensämlinge verpflanzt“, musste fortan ein unverständlicher Zahlencode notiert werden. Daurs letzte Dienstmonate waren - so schien es - nicht so glücklich.
Nach der Pensionierung war es mit der Gastlichkeit im Revier aus. Das Forstdienstgehöft musste geräumt werden, in den Hütten war plötzlich kein Platz mehr. Man traf sich in Düna wieder. Rudi Daur, seine Frau Wilma und Tochter Annemarie hatten sich in Düna an der Hohen Straße ein schmuckes Haus gebaut, das schönste im Dorf. Wir Höhlenforscher kamen durch Vermittlung des Gastwirtes Gonsior in ein leerstehenden Haus Messerschmidt (Düna 16, bei Wehmeyers Dieter) unter. In den nachfolgenden Jahren hörten wir nicht mehr viel von Daur. Er war überwiegend fort, er half seinem Bruder auf einem Campingplatz an der Weser. Sehr plötzlich ist er dann am 18.7.1985 verstorben; Rudolf Daur wurde fast 76 Jahre alt. Über sein Leben ist uns nicht viel bekannt geworden. Es soll hier auch nicht der Ort eines Lebensbildes oder Nachrufes sein. Nur soviel vielleicht: Am 29.7.1909 geboren, übernahm er schon 1937 das Forstrevier Rehhagen, wo er seinen Vater auf derselben Dienststelle ablöste. Im Forstamt Lonau, wozu Rehhagen gehört, erzählt man sich über den alten Daur, aber auch über Rudolf schon zu seinen Lebzeiten - manche Anekdote. In der Traueranzeige des Forstamtes hieß es hierzu: „Seinen Dienst versah er mit großer Gewissenhaftigkeit und vorbildlicher Pflichterfüllung“.

Rudi Daur war mehr als ein Forstbeamter. Er war ein echter Förster, seinem Revier in familiärer Liebe zugetan. Für ihn war der Wald für die Tiere und Menschen, besonders junge Menschen, da, weniger für die Jagdgäste. Die Schädlingsbekämpfung betrieb er durch gezielte Verbreitung ihrer natürlichen gefiederten Feinde, während junge Forstkollegen zur Spritze griffen. Selber hatte Daur durch eine ungewöhnlich strenge Erziehung seitens des Vaters, später durch eine Verletzung zu leiden. Uns Höhlenforschern war er zugewandt, ließ sich immer wieder von der Welt untertage berichten, war auch nur etwas mürrisch, wenn wir mitten in der Nacht aus Hamburg im Revier eintrafen; erst später mussten wir für einen Nebennutzungsschein Gebühr entrichten, zuvor manchmal zur Hand gehen. Ich empfand ihn als väterlichen Förderer unseres frühen Höhlenforscherdaseins.

Ein wenig von der Strenge - manchmal auch mehr - war bei Wilma Daur zu vermerken. Einen Zechstein-Kartierkurs führten Stephan, Martin und ich im Herbst 1970 im Hainholzgebiet durch, betreut vom gestrengen Prof'. Hans-Rudi von Gaertner, Hannover. Die Kartierung war beendet, vormittags um zehn Abnahmetermin. Von Gaertner war da, wir nicht. Vielmehr waren im Forsthausgarten die Äpfel reif. Da half kein Vertun und lamentieren, die Äpfel mussten gepflückt werden, just heute und am Vormittag. Kein Argument half, das Versprechen tröstete kaum, wir dürften zum Abend kommen und Wilmas Apfelkompott mit Buchteln (o.ä.) probieren. So flink wurden selten Apfelbäume gepflückt. Mit von Gaertner ging alles gut. Das Kompott war ganz lecker, allein, wir waren nachher wieder froh, in der Hütte bei frischer Waldluft zu sein. Im Forshaus war der Stallgeruch schwer erträglich. Der Stall war seit Jahren nicht mehr ausgemistet. Zuletzt war Christian F. hierzu herangezogen worden. Ihm war damals die Kuhscheiße an den Ärmeln heruntergelaufen. Der Stall - das Tor ging nicht mehr zu öffnen - war so voll Mist, dass die Viecher mit den Hörnern an den Dachziegeln anstießen. Unterm unten vorgewölbten Tor und über den Hof quoll es heraus. Auf dem Hof regierte Roger, der Münsterländer. Vielleicht ein liebes Tier, an der Kette ein Zerberus. Rosché, das ist ein französischer Name!
Die Hütten wurden umschichtig genutzt. Von nachmittags bis morgens die Höhlenforscher, Pfadfinder und andere; von morgens bis Feierabend die Waldarbeiterinnen. Christian lehrte, sie hießen hier Hule Hule Hack, das wäre lautmalend für ihr Tagewerk. Die Vorarbeiterin hieß Hedwig, sie fuhr den Trecker und vertrug keine wollene Unterwäsche, wie C. in Erfahrung brachte. Obenrum waren alle Hule Hule Hacks gleich gekleidet. Ein dunkelgemustertes baumwollenes Kopftuch, über einer ebensolchen Bluse eine dunkle, feingestrickte und vielfach gestopfte Jacke, unten ein weiter Rock mit dunkelblaugrau enggemusterter Schürze; Wollsocken und Gummistiefel. Der Beutel mit Thermoskanne und Brotdose, Harzkurier oder Bild war dabei. Ihr Kommen kündigte sich, oft lagen wir noch oben im Schlafsack, von ferne durch anschwellendes Schnattern an. Wir hatten ein gutes Auskommen miteinander. Ihr beharrender Trend zu rustikalem Hütteninterieur wirkte unserem Komfortstreben, durch Hamburger Sperrmüll zu Substanz geworden, wohltuend entgegen. Das war gut so; schon Jahre zuvor hatte Christian begonnen, manches Sofa, das von biederen fetenden Gesangsvereinen und anderen herangeschleppt war, heimlich zu verbrennen. Autos, Zigaretten und Alkohol tauchten bei den Jugendlichen erst spät auf, der beginnende Verfall der Hüttenkultur.
Die Hütten haben besondere Lebensformen bei uns Höhlenforschern damals erzeugt, manches ist auch heute noch wach davon: Kameradschaft, Gemeinschaft beim Holzmachen, Lichtmachen, Schnee aufsetzen zum Teekochen, Waschen im eisigen Bach, zu teilen, füreinander zu sorgen, auf engem Raume zu wohnen. Ein anderes Essen als zu Hause. Irgendwie schmeckte es hervorragend. Mancher vertrug es nicht, nahm den Teller zu voll. Eine große Schüssel voll Haferflocken mit Milch wollte morgens einer von Christians Gefährten nicht aufessen. „Geh raus, klatsch an Baum!“; Christians Rat wurde spontan umgesetzt, draußen an der Fichte vor der Hütte. In dem Moment erschien Förster Daur. Christian verkroch sich fast vor Peinlichkeit, Daur belehrte uns über die Jugend und Sitten und ob man das zu Hause machen dürfte; aber wir durften bleiben, selbstverständlich. Die Geschichte mit dem erbrochenen Rotwein im Schlafsack, oben auf dem Boden, mit dem gellenden Schrei: „Tritt nicht auf meine Daunen“, mit den zahllosen Zeichnungen von Ufer, Fluss- und Flugdaunen, die bei Werner in der Folgezeit entstanden, führt hier sicherlich zu weit.
Es waren wenige, aber schöne und verbindende, prägende Jahre.

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N 51.6929° E 10.3011°

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