Schreitender Löwe und springendes Pferd.

Mitteilung über eine alte Territorialgrenze im Südharz.

Zwischen Nordhausen und Rottleberode liegt im Zechsteingürtel des Südharzvorlandes das kleine Waldgebirge "Alter Stolberg", das wegen seines Pflanzenreichtums von den Naturfreunden unserer Heimat sehr geschätzt wird. Seinen Namen hat der Bergwald wohl davon, daß er seit dem Mittelalter im Lehnsbesitz der Stolberger Grafen gewesen ist. Möglicherweise könnten aber auch die Grafen von Stolberg ihren Namen vom Alten Stolberg entlehnt haben. Dann würde es sich um einen alten Landschaftsnamen handeln.

Der aufmerksame Wanderer, der dieses interessante Waldgebiet durchstreift, wird oftmals auf Grenzsteine stoßen, in die laufende Nummern und die Jahreszahl 1735 eingemeißelt sind. Sie zeigen außerdem als Wappentiere auf der einen Seite einen schreitenden Löwen und auf der Kehrseite ein springendes Pferd. Hierzu gehört auch der bekannte Stein Nr. 100 an einer markanten Wegekreuzung zwischen Steigerthal und Stempeda im Nordteil des Alten Stolbergs. Mancher Heimatfreund wird sich über die Bedeutung dieser Grenzsteine Gedanken gemacht haben, ohne eine Erklärung dafür zu finden. Der Kenner der Heimatgeschichte weiß, das es sich um die Grenzmarkierung zwischen den ehemaligen Kurfürstentümern Sachsen und Hannover handelt.
Die Besitzverhältnisse haben sich nach 1735 mehrmals gewandelt. So mußte Sachsen nach dem Wiener Kongreß 1815 seinen Anteil an Preußen abtreten, und nach dem Kriege von 1866 wurde auch der hannoversche Teil preußisch. Seitdem hatte der alte Grenzzug nur noch die Bedeutung einer Kreisgrenze zwischen dem provinzialsächsischen Kreise Sangerhausen und dem Kreise Ilfeld. Der Kreis Ilfeld war ursprünglich aus der hannoverschen Exklave Amt Hohnstein hervorgegangen. Er wurde später mit dem provinzialsächsischen Kreise Grafschaft Hohenstein vereinigt.

In der umständlichen Ausdrucksweise damaliger Zeit wird diese Grenze in einem Lehsbrief des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg an die Grafen von Stolberg über das Schloß und Amt Hohnstein vom 6. Oktober 1590 beschrieben. Sie beginnt nördlich des 600 m hohen Birkenkopfes an der Alten Heerstraße im Südharz, dort, wo sich früher die Länder Anhalt, Braunschweig, Hannover und Sachsen berührten, und geht mit dem damals als "Thyra" bezeichneten Krebsbach durch die Nordhäuser Talsperre bis zu dessen Austritt aus dem Gebirge. Hier verläßt die Grenzlinie den Bachlauf und geht durch die Feldflur weiter nach Süden "bis uff die Strasse, die gehet von der Neuenstad nach Hermanns=Acker, von der Straß die Scheidung zwischen Hermanns=Acker und Hartzfeld auff der Flur=Marckt hin, bis an die Scheidung, da Hermanns=Acker und das Buchholtz zu Hauffe gehen". Bei dem Dorfe Buchholz schlägt die Grenze ostwärts ein bis zum Rückhaltebecken am Iberg, dann verläuft sie wieder in südlicher Richtung über den Alten Stolberg "einen Weg uff, bis in den Weg, der da scheidet der Herren Holtz und gemein Holtz". Nun geht sie an der Kalkhütte vorbei "den Weg hin bis an das Münnichholtz vom Rode (Waldbesitz des ehemaligen Walkenrieder Klosterhofes Nikolausrode auf dem Rodeberge bei Urbach), von dem Felde Ammelsche ... den Richtweg nieder bis an die Heinckele (Höhle Heimkehle), von der Gruben die Heinckele bis in die Thyra nieder bis unter Bösenroda, da das Kelbrisch Gericht, und denn alsofort bis uff die Strasse alle uff, bis wieder da die Holbach (Roßmannsbach) beneden Northaußen in die Strasse fället".

Noch jetzt kann man die Grenzlinie an Hand der gleich nach dem Jahre 1735 gesetzten Wappensteine, wovon noch über 200 Exemplare vorhanden sind, verfolgen. Sie sind teilweise noch gut erhalten und zeugen von guter Steinmetzarbeit. Das Material stammt wahrscheinlich aus den Sandsteinbrüchen des Kyffhäusergebirges.

In unmittelbarer Nähe des alten Grenzzuges befindet sich auf damals kursächsischem Hoheitsgebiet am Nordrande der Goldenen Aue zwischen Bösenrode und Görsbach ein großer aufrecht stehender Malstein, in dem eine stilisierte Gabel und ein Kreis eingemeißelt sind. Möglicherweise stellt dieser Stein das in der Grenzbeschreibung von 1590 erwähnte "Kelbrisch Gericht" dar. Es würde sich dann um eine Gerichtsstätte der damals schwarzburgischen Ämter Kelbra und Heringen gehandelt haben, die als sächsische Lehen an dieser Stelle gemeinsam an das Amt Hohnstein grenzten. Der Kreis als Zeichen des Gerichtes und die Gabel als Symbol der Schwarzburger Grafen deuten darauf hin. Vielleicht ist der Malstein aber auch nur ein Grenzstein an dieser Drei-Ämter-Ecke gewesen. -

Der unmittelbare Anlaß zur Versteinung der an sich viel älteren Grenze war folgender: Der Territorialstaat Hanover, der aus dem Stammhause Braunschweig hervorgegangen war, erwarb von Kursachsen bei einer Grenzregulierung im Jahre 1702 den vorher zum Amte Ebersburg gehörenden Teil des Dorfes Buchholz. Einige Jahrzehnte später entstand um die Steuerpflicht der Wüstungen Crimderode und Tiemerode - Dörfer bei Urbach und Görsbach, die im hohnsteinischen Fleglerkrieg 1412 zerstört wurden - ein mehrjähriger Streit zwischen Kursachsen und Hannover, der durch einen am 30. August 1735 zu Nordhausen abgeschlossenen Rezeß der beiden Parteien beendet wurde. Die Schlußverhandlung fand also auf dem neutralen Territorium der damals Freien Reichsstadt Nordhausen statt. Dieser Vertrag, in dem Hannover meistens mit "Churbraunschweig=Lüneburg" bezeichnet wird, regelte alle noch schwebenden Grenz- und Hoheitsdifferenzen wegen des hannoverschen Teiles der Grafschaft Hohnstein (=Amt Hohnstein). Die Kanzlei des Amtes Hohnstein befand sich 1735 schon in Neustadt, da die Burg Hohnstein im 30jährigen Kriege 1627 wüst geworden war.

Der Rezeß bestimmte ferner, daß anstelle der bisher eingerammten Grenzpfähle 252 Grenzsteine gesetzt werden sollten, die auf hannoverscher Seite das Roß, auf sächsischer aber das Löpperwappen nicht zu tragen hätten. Es mag befremden, daß für Kursachsen nicht das sächsische Rautenwappen gewählt wurde. Wie jedoch aus der Rezeßakte von 1735, die im Sächsischen Landeshauptarchiv in Dresden aufbewahrt wird, hervorgeht, handelt es sich bei dem schreitenden Löwen um das Wappen der alten Landgrafschaft Thüringen, die zusammen mit der Markgrafschaft Meißen im Jahre 1429 durch die Wettiner mit dem Kurlande Sachsen-Wittenberg vereinigt wurde. Sachsen war damit Rechtsnachfolger Thüringens geworden. Die Tradition des niedersächsischen Pferdewappens reicht bis in die Zeit des Sachsenherzogs Widukind zurück, die später von den welfischen Herzögen von Braunschweig übernommen wurde. Die Welfen wollten damit Ansprüche auf das ihnen im Jahre 1180 verloren gegangene größere Niedersachsen ausdrücken.

Interessant ist auch, das zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses und der Versteinung des alten Grenzzuges beide Grenznachbarn durch Personalunion mit europäischen Königreichen verbunden waren. Der wettinische Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen - Sohn Augusts des Starken - war zugleich König von Polen, während der welfische Kurfürst Georg II. von Hannover gleichzeitig die Krone Großbritanniens inne hatte. Letzterer gründete 1737 die Göttinger Universität.

Die Ratifikationsurkunden zur "Punctation zu Beylegung derer über das Amt Hohnstein obschwebenden Diferenzien" wurden am 3. Juli 1736 in Warschau und am 27. November 1736 in Hannover unterzeichnet.

Zu beiden Grenzpartnern standen die Stolberger Grafen im Lehnsverhältnis. Sie trugen aus der Hand des hannoverschen Kurfürsten das Amt Hohnstein zu Lehen, während der Kurfürst zu Sachsen als Oberlehnsherr über die angrenzende Grafschaft Stolberg fungierte.

Unsere Grenzsteine sind somit Zeugen von der Beendigung mehrjähriger Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden Territorialstaaten und Überbleibsel aus dem absolutistischen Zeitalter. Sie erinnern an das manchmal recht komplizierte Lehnwesen des Mittelalters, das sich bis in die Neuzeit erhalten hatte. Die Grenzsteine bezeugen aber auch die Zersplitterung unserer Heimat in der Zeit der deutschen Kleinstaaterei.

Erich Rose, 
Nordhausen.
Pestalozzistr. 8

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