KZ auf Wanderschaft - Todesmärsche im Westharz

Die schrecklichen
Ereignisse in den
letzten Kriegstagen

Todesmarsch - Stele
vor der Kirche in
Clausthal, gefertigt
von Schülern der
BBS II Osterode,
feierlich enthüllt am
24. September 2000

"Etwa auf Höhe der Bleichestelle begegnete uns der Zug der Gefangenen. Sie kamen von der Sösebrücke her und nahmen die ganze Fahrbahn ein. Einige wurden auch getragen, von zweien, die die Hände so gekreuzt hatten und den dann trugen. Andere wurden gestützt von anderen. Was ich noch ganz genau in Erinnerung habe: Neben dem Zug ging ein SS-Mann, der hatte eine Peitsche in der Hand, mit einem ganz kurzen Stiel, aber einer ganz langen ledernen Leine, der schlug die immer über den Leuten, die Straße war ja von dem ganzen Zug eingenommen, und ich meine, die Leine ging ganz darüber hinweg, so lang war die, und als er uns sah, der hatte so stechende Augen, an die kann ich mich noch so genau erinnern, ich dachte damals, so sieht der Teufel aus, ich sehe den immer noch mit der Peitsche vor mir." So erinnerte sich Frau E. über den Morgen des 8. April 1945 in Osterode.

"Unser Magen ist seit mehreren Tagen leer... Wir sind erst 10 oder 15 Kilometer gelaufen und einige können schon nicht mehr. Viele wollen sich am Straßenrand niederlassen. Ein Fußtritt, zwei Fußtritte. Wer dann nicht aufsteht, bleibt für Immer liegen. Eine Revolverkugel und die ewige Ruhe ist da." So schrieb der französische Häftling A. Mouton.

"Wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen, wir sind an manchen Toten vorbeigekommen. Der ganze Harz ist ja voller klarer Bäche, aber wer aus dem Bach trinken wollte, kam nicht mehr hoch, wurde erschossen. Kontakte mit der Bevölkerung hatten wir keine, die Straßen waren wie leergefegt, die Leute standen hinter den Fenstern." Dies berichtet der ehemalige Häftling F.

"Ich bin da selbst nicht mitgewesen, das waren Leute von uns, die die Leichen ausgegraben haben. Das war so ca. 1948 bis 49, da war so eine Kommission aus Göttingen, die Leichen lagen im Wald vom Ende Lerbach bis Heiligenstock, das waren eigentlich nur noch Knochen, die haben versucht, die zu identifizieren." Erzählung des damals jungen Mitarbeiters G. eines Osteroder Bestattungsunternehmens.

Was war passiert? Als sich Anfang April 1945 amerikanische Truppen der südlichen Harzregion näherten, begann die SS-Führung die KZ-Häftlinge, die in Rüstungsfabriken und auf Großbaustellen Zwangsarbeit verrichteten, in frontfernere KZs, insbesondere Bergen-Belsen und Sachsenhausen zu überführen. So wurden in den ersten Apriltagen 45 aus dem KZ Mittelbau-Dora und seinen vielen Außenlagem zwischen Osterode und Sangerhausen über 40000 Häftlinge mit der Bahn und, wo dies wegen Kriegseinwirkungen nicht mehr ging, zu Fuß nach Westen und Norden in Marsch gesetzt. Vier Wochen später, bei Kriegsende, waren über ein Viertel davon tot: verhungert, verdurstet, erstickt, erschlagen, erschossen, bei lebendigem Leibe verbrannt.

Bei Kriegsende spielte sich die Räumung der KZs vor heranrückender Front als eines der letzten großen Massenverbrechen ab: Vorbereitungen, Abmarsch des gesamten Lagers bis auf die Schwerkranken, die zuweilen an Ort und Stelle getötet, meist aber sich selbst überlassen in den Krankenbaracken zurückblieben, und Nachkontrolle durch einige SS-Leute und Funktionshäftlinge. Neben wahllosen Einzeltötungen kam es auch zu Massakern. So bei Palmnicken in Ostpreußen im Januar 45, wo mehrere Tausend Juden, überwiegend Frauen, zwischen die Eisschollen der Ostsee getrieben und erschossen wurden, oder bei Gardelegen in der Altmark, wo am 13. April 45 in einer Gutsscheune nachts über tausend Häftlinge, viele von ihnen aus Lagern im Kreis Osterode, bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Nur eine Handvoll überlebte hier.

Die Zivilbevölkerung, verführt durch die Propaganda, sah die "Zebras“ als gefährliche Verbrecher an; Zebras wegen der gestreiften Kleidung. Gleichgültigkeit war meist die Reaktion. Mit den Augen hatte man wahrgenommen, aber nichts gesehen; jedenfalls haben es Häftlinge so empfunden. Waren einige aus einem Transport geflohen, so beteiligte sich die Zivilbevölkerung, Männer, Frauen, Jugendliche, oft genug an Mordaktionen, verharmlosend als "Hasenjagd" bezeichnet. Die meisten Begegnungen zwischen Häftlingen und der Zivilbevölkerung ergaben sich auf den Todesmärschen, die durch so viele kleiner und großer Städte und Dörfer führten, deren Augenzeugen Hunderttausende deutscher Bürgerinnen und Bürger wurden. Es ist auffällig, wie unterschiedlich deren Reaktionen den Beteiligten in Erinnerung blieben. Von deutscher Seite wird oft berichtet, was Historiker als "Legende vom Butterbrot" beschreiben. S. Krakowski, Überlebender von Auschwitz, schrieb später: "Es stimmt, es gab Ausnahmen. .. Aber diese waren so selten, daß sie nur den Beweis dafür liefern, daß es wirklich Möglichkeiten gab, Menschenleben zu retten, wenn die Deutschen nur mehr Zivilcourage und menschliches Empfinden gezeigt hätten und weniger Loyalität zum Naziregime - und wäre es nur während der letzten Wochen und Tage des Krieges gewesen."

Noch einmal berichtet André Mouton: "Die SS-Leute erschießen alle, die sich von der Kolonne zurückfallen lassen. Wir nehmen den Weg wieder auf, um die gleichen Szenen einige Kilometer weiter wieder zu sehen. Was für ein Alptraum für den, der das erlebt hat! Diese Bilder werden ihn sein Leben lang nicht verlassen. .. Als wir am Bahnhof Oker ankommen, haben nur die Widerstandsfähigsten überlebt. Für wie lange und zu welchen Bedingungen? Werden wir jetzt essen? .. Was für eine Reise werden wir danach unternehmen? ... Wir sind müde und erschöpft. Hinter uns in den Gräben haben wir eine große Anzahl unserer Kameraden gelassen. Es ist elf Uhr abends... Viehwaggons erwarten uns. Wir steigen ein. Wir sind 136 pro Waggon."

Viele am Wegesrand verbliebene oder notdürftig verscharrte Leichen wurden nach dem Krieg auf Anordnung der Alliierten exhumiert und auf örtlichen bzw. zentralen Friedhöfen ehrenvoll beigesetzt.

Auf dem mit 34 km größten dieser Gewaltmärsche überquerten am 8. April 1945 ca. 3.500 Häftlinge aus dem KZ Mittelbau-Dora den Harz von Osterode nach Oker. Vier Tage vorher wurden ca. 450 Häftlinge des KZ Gandersheim zu einem Marsch über Bad Grund und Clausthal-Zellerfeld in Richtung Wernigerode getrieben, wo die Überlebenden am 7. April ankamen. Wernigerode war auch das Ziel des Gewaltmarsches von 800 noch "gehfähigen“ Häftlingen der 1.150 Mann umfassenden III. SS-Baubrigade; diese hatten am Bau der Helmetalbahn Zwangsarbeit geleistet und waren am 6. April von den KZ-Lagern Osterhagen, Nüxei und Mackenrode zum Lager Wieda aufgebrochen, sie marschierten von dort am nächsten Tag nach Braunlage, nachdem noch in der Nacht in Wieda sechs Mann beim Einsturz der völlig überbelegten dreistöckigen Bettgestelle ums Leben kamen.

Während im Ostharz und in der DDR schon sehr früh solche Ereignisse aufgearbeitet und mit Gedenkeinrichtungen dokumentiert wurden, sind die weit umfangreicheren Ereignisse und Verbrechen, die sich auf der niedersächsischen Harzseite abspielten, vergessen oder verdrängt worden. 1999 trugen überlebende französische Häftlinge den Wunsch an die Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion heran, mit Gedenkstelen an die Fußmärsche in den Landkreisen Goslar und Osterode zu erinnern. Dieses in Kooperation mit den Berufsbildenden Schulen im Kreis Osterode 2000 ins Werk gesetzte Wegzeichenprojekt bietet Schülern die Möglichkeit, Geschichte der Region zu entdecken. Betroffenheit soll nicht nur Verständnis wecken, sondern auch Wege politischer Beteiligung aufzeigen. Besonders wertvoll sind die sich ergebenden Kontakte mit Zeitzeugen, den Überlebenden der Todesmärsche.

20 Stelen werden zur Markierung der drei Marschstrecken im niedersächsischen Harz aufgestellt, jeweils an belegten Stellen von Mordtaten. Es sind von den BBS im Rahmen des Unterrichts selbst hergestellte sehr schlichte Betonsäulen. Auf den der Straße zugewandten Seiten steht ein Dreieck als Symbol des "Winkels", der farbigen Kennzeichnungen der gestreiften KZ-Kleidung, darunter "April 1945", auf der anderen Seite "Todesmarsch". Die erste Stele zur Erinnerung an den Todesmarsch von Osterode nach Oker wurde im Juli 2000 unmittelbar oberhalb des Osteroder Ortsteils Freiheit in Anwesenheit überlebender Häftlinge durch Landrat Bernhard Reuter mit großer öffentlicher Beteiligung eingeweiht.

Firouz Vladi

(Auszüge aus einem zugleich in den Osteroder Heimatblättern publizierten Aufsatz)

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