Die Ruine der im Jahr 1593 eingeweihten Bartholomäikirche unterhalb des Schlosses.

In den Grabgewölben des Kirchhofs hatten zahlreiche Leichname die Zeit überdauert, unter anderem der Körper von Curt Schachtrup, der im 18. Jahrhundert immer wieder entnommen wurde.

Stahlstich von Kolb nach einer Zeichnung von Rohbock

 

Zum Stelldichein mit einem Toten

Im 18. Jahrhundert sorgte die Herzberger Tanzleiche für ein zweifelhaftes Amüsement. Der mumifizierte Körper des Kaufmanns Curt Schachtrup wurde immer wieder der Gruft entnommen.

Die Rechtsmedizin Göttingen verwahrt die Mumie des Kaufmanns Curt Schachtrup - Im 18. Jahrhundert war sie als Tanzleiche bekannt.

- von Michael Paetzold -

Es ist der 16. Dezember des Jahres 1677. Curt Schachtrup aus Herzberg tut seinen letzten Atemzug nach einem erfüllten Leben. Der gottesfürchtige Kaufmann hat es weit gebracht. Doch eine besondere, ja, man kann schon sagen, einzigartige Karriere, sollte erst später beginnen - viele Jahre nach seinem Tod.

Robert-Koch-Straße Göttingen, Uni-Klinikum. Links am Kiosk vorbei, Aufzug D, Ebene 4, den Gang hinunter, dann links. Dort erwartet mich Dr. Sammler von der Rechtsmedizin. Bedenken hatte sein Chef, der kommissarische Institutsleiter Professor Grellner während eines ersten Telefonats angemeldet - „Sie wissen ja wie das ist, die Öffentlichkeit, Menschen, die nicht bestattet wurden, das ist so eine Sache...“ - und sie dann, angesichts der großen Zeitspanne zwischen damals und heute, doch verworfen und sein Okay gegeben. Mit Dr. Sammler geht es auf den Weg zu einem Magazinraum am Kreuzbergring. Er erzählt von der Gründung der Rechtsmedizin im Jahr 1904. Damals kam auch die Leiche des Kaufmanns Schachtrup aus der Pathologie in das Institut. Wir sprechen über Grabfunde der Archäologen, die Ausstellung Körperwelten, von Ethik und der unterschiedlichen Sicht der Menschen auf die Dinge.

Herzberg im Jahre 1714: Erhitzt trotz Winterwetters müht sich der Totengräber den Mühlengraben hinauf, geduckt unter einer besonderen Last. Mehr als einmal setzt er aufgeregt ab und ruht aus, um sie erneut zu schultern. Es ist die Leiche von Curt Schachtrup, die er kurze Zeit zuvor in der Familiengruft auf dem Bartholomäikirchhof bei der Beisetzung von Sohn Rudolph Schachtrup entdeckt hatte, ausgetrocknet zwar, aber unverwest. Nach dem ersten Schrecken hatte er die Mumie dem Grabgewölbe entnommen und in einem dunklen Winkel in der Kirche zwischengeparkt. Jetzt aber sollte sie für Aufregung sorgen in der Spinnstube - für die Mädchen eine Überraschung der besonderen Art. Wohl ist dem Mann nicht bei seinem ungewöhnlichen Unterfangen, und als sich tief wachsende Äste eines Wallnussbaums für ihn nicht sichtbar in der Leiche verfangen und sie festhalten, erfasst ihn Entsetzen. Die Mumie stürzt zu Boden, der Totengräber sucht in sternloser Nacht das Weite. So erzählt es zumindest der Grubenhagensche Heimat-, Haus- und Familienkalender im Jahr 1929. Mit dem Fund des mumifizierten Körpers von Curt Schachtrup am nächsten Tag beginnt die heute fast vergessene Geschichte der Herzberger Tanzleiche.

Angesehener Kaufmann
Zu Lebzeiten war Curt Schachtrup ein angesehener Kaufmann mit einigem wirtschaftlichen Fortune, sein Lebensweg ist nur über begleitende Ereignisse und Dokumente nachzuzeichnen. Geboren am 29. November 1606 in Lippstadt, siedelte er sich im Dreißigjährigen Krieg in Herzberg an und profitierte als Handelskaufmann vom Harzer Bergbau, nutzte den Aufschwung nach den Kriegswirren mit blühendem Eisenhandel. Er heiratete und ließ in Herzberg sechs Kinder taufen. Weit verzweigt war die Familie Schachtrup(p), die im 19. Jahrhundert in der Nachbarstadt, der heutigen Kreisstadt Osterode, damals wirtschaftliches Zentrum des Königreichs Hannover, Industriegeschichte schrieb. Die weitläufige Anlage in der Scheerenberger Straße, die Schachtruppsche Bleiweißfabrik von Johann Friedrich, steht noch heute. Damals wurden hier Bleiweißfarben in großen Stil produziert und in die ganze Welt exportiert. Für den wetterfesten Anstrich der gesamten türkischen Flotte soll das Osteroder Unternehmen das Material geliefert haben.
Dr. Sammler verriegelt das Eisengitter an einem unscheinbaren Gebäude der 70er, öffnet eine offenbar selten genutzte Tür und enteilt zunächst in die Dunkelheit. „Erst mal Licht machen“, ruft er von fern, um dann vorsichtig die Wolldecke von einer alten Vitrine vor der getünchten Wand zu ziehen. Und da steht er, der alte Schachtrup, oder besser das, was von ihm übrig ist, gestützt durch ein Eisengestell. Aber immerhin: eine über die Jahrhunderte gut erhaltene Mumie, ledrig, braun verfärbt der Körper, die Glieder gekrürnmt durch die Verkürzung der Muskulatur und den Mund weit aufgerissen. So hatte ihn auch der Totengräber einst gefunden in der Gruft des Barlholomäifriedhofs. Nur Genitalien und Füße fehlen heute, „wohl bei all dem Schabernack, der mit der Leiche getrieben wurde, verloren gegangen“, vermutet der Wissenschaftler. Und das verwundert in der Tat nicht.
Was für einen Schreck werden Herzberger Jugendliche wackeren Studenten aus Göttingen eingejagt haben, als sie den ledrigen Gesellen nach durchzechter Nacht unvermittelt zwischen diese platzierten! Im 18. Jahrhundert sorgte die Mumie so für manch wohliges Schaudern, wenn sie gegen eine kleine Gebühr mal wieder heimlich vorgezeigt wurde oder als Partner auf dem Tanzboden der Wirtschaft eine bemerkenswerte Figur machte:
„Teuf man, wenn du nich wacker bist, hol ick den Schachtrup“, soll Herzberger Kindern gedroht worden sein, vermutlich ein zielführendes Argument repressiver pädagogischer Bemühungen. Die „Annalen der Braunschweigisch-Lüneburgischen Churlande“ von 1787 berichteten: „Ein jeder der es verlangt, kann die Leiche da zu sehen bekommen, man addressiert sich desfalls nur an den Todtengräber. Gegen ein kleines Trinkgeld kriegt dieser den Leichnam Sans facon beym Leybe, bringt ihn aus dem Gewölbe und lehnt ihn an die Mauer, erlaubt sich dabey allerhand elende Zoten und pöbelhafte Späße“.

Sammlung Blumenbach
Bis Ende des 18. Jahrhunderts, so schreibt Albrecht Schütze in den Harzer Heimatblättem 1999, soll Schachtrup dergestalt in Umlauf gewesen sein, bis schließlich Pastor Raven und der Mediziner Dr. Reimke aus Herzberg dem zweifelhaften Spaß ein Ende machten, die Mumie dem Zugriff der Offentlichkeit entzogen und den Leichnam 1791 dem Akademischen Museum der Georgia Augusta in Göttingen am Papendiek übergaben, wo er in die berühmte Sammlung des Mediziners Professor Johann Friedrich Blumenbach (1752 bis 1840) einging, dem Begründer der Anthropologie in der Uni-Stadt und besten vergleichenden Anatom seiner Zeit. „Die unverweste sondern eingetrocknete Leiche des den 16ten Xbr (Decembris) 1677 in dem 71ten Jahre verstorbenen Cord Schachtrups, Kaufmann zu Herzberg am Harz“, verzeichnet Blumenbach den willkommenen Neuzugang.
Als Bestandteil der universitären Sammlung blieb der unverweste Corpus, ausgestellt auf der Museumstreppe, für viele Jahrzehnte weiter im Blick der Öffentlichkeit. Der aus Bern stammende Student der Forstwissenschaften Goltlieb von Greyerz hielt seine Eindrücke Ende des 18. Jahrhunderts in einem Brief fest: Amphibien, menschliche Embryonen, einen Schädel vom Walross und eine wohlbehaltene Mumie habe er neben einer „Menge Götzen von abscheulichen Verzerrungen des Körpers“ gesehen. Schließlich geriet der Leichnam, vermutlich durch den Umzug des Museums, in Vergessenheit und wurde erst 1940 in einer Kellerecke wiederentdeckt und in die Pathologie überführt. Doch wie konnte sich der Körper eines Toten so gut erhalten? Schachtrup war im Winter bestattet worden, trockene kalte Luft und entsprechender Wasserentzug, so vermutet Dr. Sammler, sorgten unter anderem für das Trocknen und Verfestigen der Körperoberfläche. Zudem war im Grabgewölbe Salpeter ausgetreten, die hygroskopische Umgebung wird so das Ihre dazu getan haben.
Nach kurzen Exkursen über die verschiedenen Formen der Mumifizierung und Inaugenscheinnahme des Bestandes lassen wir Curt Schachtrup wieder seine Ruhe zwischen Wachsleichen und Brandtorsi. In der Rechtsmedizin kann man sich seine Nachbarn eben nicht aussuchen. Bei trockener und lichtgeschützter Aufbewahrung wird sich der konservierte Leichnam vielleicht noch tausende Jahre erhalten.

„Ich schwöre es Euch...“
Wir treten ins Freie. Die Tür fällt ins Schloss, vermutlich für lange Zeit. Während ich kräftig durchatme und die frostige Luft genieße, kommt mir eine alte Geschichte in Erinnerung, die sich in verschiedenen Varianten um den Herzberger Kaufmann rankt. Versehentlich soll ihm nämlich vom Bergfaktor der Harzer Bergstadt Clausthal ein Fässchen Gold zugestellt worden sein, zufällig zwischen eine Ladung aus Fässern gefüllt mit Blei geraten. Alles Drängen half nichts, der wohlhabende Kaufmann aus Herzberg habe das konsequent geleugnet und den Wahrheitsgehalt seiner Aussage schließlich mit flammenden Worten bekräftigt: „Ich schwöre es Euch beim lebendigen Gott, dass ich das Gold nicht besitze. Unser Herrgott soll mich dereinst nicht verwesen lassen, wenn ich nicht die Wahrheit sage.“
Als 1840 die baufällig gewordene Bartholomäikirche abgerissen wurde und die Toten auch des angrenzenden Friedhofs umgebettet wurden, hielt Kirchenjurat Martin Rohrmann in seinem Tagebuch Auffälligkeiten fest: Zahlreiche Körper hatten die Zeit dort unverwest überdauert.

Die Mumie des Kaufmanns
Kurt Schachtrup aus Herzberg
(1606 bis 1677) im Magazin der Rechtsmedizin Göttingen.

Foto: Michael Paetzold


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Quelle: Herzberg am Harz in historisch-statistischer Rücksicht
von Amtmann a.D. F. W. Meister, 1853

GPS-Koordinaten
N 51.6547° E 10.3338°
Hinweis:
von der Kirchenruine sind keine Überreste mehr sichtbar.
Nach dem Abriss des ehemaligen Postneubaus,
hat sich heute hier ein Einkaufscenter angesiedelt.

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